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Licht, Kunst und das Politische – Victoria Coelns Projekte im öffentlichen Raum

von Heike Sütter

Licht steht für Erkenntnis, Erneuerung, Erleuchtung, Erlösung und Leben. Neben diesen  positiven Konnotationen kann Licht auch bedrohlich werden, überwachen, verfolgen, foltern, Gefängniszellen ohne Pause erhellen oder blenden bis zum Erblinden – man denke etwa an Ödipus oder Polyphem. Kaum ein anderes Material ist derart metaphorisch aufgeladen. Licht besitzt nicht nur eine unerschöpfliche Bedeutungsfülle, sondern wirkt auch unmittelbar über seine körperlich-psychische Erlebbarkeit. So, wie sich Licht im übertragenen Sinne „lesen“ lässt, lässt es sich auch körperlich erfahren. Der Lichtstrahl, der etwas erhellt, lässt die Betrachter gleichzeitig sehen und das Erhellte als etwas Besonderes oder Bedeutungsvolles erkennen. Hinzu kommt, dass Licht ein flexibel einsetzbares Medium ist: Es verändert Räume und Landschaften im großen Format, ohne je in ihre materielle Substanz oder Organismen irreversibel einzugreifen.

Diese Verschränkung, die auf mehreren Erkenntnisebenen gleichzeitig wirkt, macht das Licht gerade für komplexe Inhalte und einen neuen Blick darauf zu dem vielleicht interessantesten Medium gegenwärtiger Kunst. Licht als künstlerisches Material ist geradezu prädestiniert, Werke mit hoher Aussagekraft zu schaffen.

So finden sich in der zeitgenössischen lichtbasierten Kunst eine Reihe international herausragender Positionen, die gesellschaftspolitisch brisante Themen aufgreifen und eindrücklich in Szene setzen. Zu nennen sind hier etwa Mischa Kuballs Arbeit refraction house, bei der er aus den Fenstern der Synagoge Stommeln gleißendes Licht strömen lässt und ein emotional hoch aufgeladenes Bild zwischen Hin- und Wegschauen schafft. Rafael Lozano-Hemmer installiert in Border Tuner dies- und jenseits der mexikanisch-amerikanischen Grenze Suchscheinwerfer, die, treffen sie aufeinander, einen Tonkanal zwischen den Ländern öffnen. Und Dan Roosegaarde schließlich flutet mit seiner traurig-schönen Laser- und Nebelinstallation Waterlicht öffentliche Plätze und zeigt, dass uns das Wasser bei der weiteren Missachtung der Klimawarnungen sehr bald bis zum Hals stehen wird.

Victoria Coelns Lichtinterventionen im öffentlichen Raum lassen sich in den Kontext der Arbeiten mit gesellschaftspolitischer Ausrichtung einordnen. Konzentrierte sie sich bei Projekten wie Via Activa, Dystopia Eutopia und Crossing Realities Türkiye oder Κύπρος | Kıbrıs (Zypern) vorwiegend auf einzelne politisch und geschichtlich relevante, herausragende Orte, so nehmen ihre aktuellen Projekte eine neue Form an: Seit 2019 konzipiert und realisiert die Künstlerin multilokale, multidisziplinäre, transkulturelle Großprojekte, die sich einem übergeordneten Gesamtthema widmen. Den Auftakt machte peaceful revolution, ein dreiteiliges Stadtprojekt mit und in Leipzig anlässlich 30 Jahre Friedliche Revolution 1989. Im ersten Teil siedelte sie ihr Lichtstudio für vier Monate mitten im Museum der bildenden Künste Leipzig an, eine erste Intervention. Mit diesem Studio in Residence setzte sie nicht nur sich selbst und ihre Arbeitsprozesse der ständigen Beobachtung und Öffentlichkeit aus. Vielmehr forderte sie die 50.000 Besucher:innen des Museums sowie die breite Öffentlichkeit, politische und kulturelle Initiativen aus Leipzig dazu auf, sich als Akteure aktiv am Re-enactment der Friedlichen Revolution zu beteiligen. Im Projektverlauf entstand hier das Material für den zweiten Teil, sechs Lichträume, die sich ab 4. September, dem ersten Tag der Montagsdemonstrationen nach und nach zu einem Lichtring entlang der historischen Strecke der Montagsdemonstrationen verbanden. Im dritten Teil, am 9. Oktober, dem alles entscheidenden historischen Datum, ergänzten 24 weitere Lichträume den Leipziger Lichtring. Komplettiert wurden die Interventionen durch performative Elemente, die ebenfalls im Vorfeld im Lichtstudio erarbeitet wurden.

Die Wiener Lichtblicke, die Victoria Coeln als künstlerische Leiterin seit 2020 jährlich konzipiert und realisiert, greifen das für Leipzig konzipierte Format auf und entwickeln es stetig weiter. Jede Ausgabe ist einem Jahresthema gewidmet, das Konstitution und Werte unserer Gesellschaft und unseres Zusammenlebens verhandelt. 2020 stand im Zeichen der „Menschenrechte“, das Thema 2021 lautete „Zivilcourage“, 2022 wurde die „Verfassung“ ins Licht der Kunst gerückt. „Demokratie“ist für 2023 in Vorbereitung, 2024 werden sich die Lichtblicke der „Solidarität“ annehmen. Für jedes Schwerpunktthema werden in mehreren Wiener Bezirken Orte im öffentlichen Raum identifiziert, die sich über ihre Geschichte, Ereignisse und Menschen mit dem Thema verbinden lassen. Diese Orte verwandeln sich für rund zwei Monate in Chromotope – in mit Victoria Coelns typischer künstlerischer Handschrift geschaffene Lichträume aus chromatischem Licht – die durch lichtgrafische Beiträge internationaler Künstlerinnen und Künstler weitere Dialogräume öffnen. 2022 kamen erstmals künstlerisch gestaltete Augmented Reality-Objekte hinzu – eine Kooperation mit Litto, Artificial Museum –, die den Lichträumen vor Ort eine völlig unerwartete Dimension der Wahrnehmung hinzufügten, nachhaltig vor Ort verbleiben und so manche bis heute in die eigenen vier Wände mitgenommen werden können.

Die Chromotope schaffen im metaphorischen wie buchstäblichen Sinne eine neue Sichtbarkeit für Ereignisse, Narrative und Menschen, die mit dem Jahresthema verbunden sind. Sie verschieben Wahrnehmungen, holen Vergessenes aus der Dunkelheit, hinterfragen tradierte Erzählungen und laden dazu ein, gedanklich, emotional und körperlich in ein neues Licht zu treten. Hierbei geht es der Künstlerin darum, neue, positive Erfahrungen zu ermöglichen, die für jede:n neue persönliche Erinnerungen generieren können: „Immer mehr Lichtblicke verknüpfen sich zu einem Lichtgewebe, das sich visuell und virtuell immer weiter vergrößert und sich in Stadträume und Gesellschaft ausbreitet“, so Victoria Coeln. Die Schönheit der ästhetischen Erfahrung soll in die Schönheit gesellschaftlicher Handlungen übergehen.

Für die Chromotope hat Victoria Coeln mit ihrem Team und Kooperationspartner:innen eine Fülle von Aktivitäten, Begleit- und Vermittlungsformaten entwickelt. Interaktive Karten, Audioguides und Texte vor Ort stellen Hintergrundinformationen zu den jeweiligen Orten und Beziehungen bereit. Gespräche und Performances in den Chromotopen widmen sich bestimmten Aspekten der Jahresthemen, in Walks mit den Instagramers Austria oder auf Licht-Tram-Fahrten geben Künstler:innen und Expert:innen thematische Einblicke. 2023 werden bereits im Vorfeld Beteiligungs-Workshops im NIPAS-Lichtstudio oder an Orten der Partner:innen angeboten. Gemeinsam werden performative Kundgebungen und Popup-Chromotope erarbeitet. Sie entfalten sich für nur einen Abend und werden von Künstler:innen, Expert:innen und zivilgesellschaftlichen Initiativen unter Beteiligung der breiten Öffentlichkeit abgehalten. Weiters rückt 2023 der bislang implizite Aspekt der Künstlerischen Forschung und der Rezeptionsanalyse verstärkt in den Vordergrund: In Kooperation mit dem Sozialforschungsinstitut SORA, das u.a. mit dem Österreichischen Demokratie-Monitor die Demokratiequalität erforscht, nähern sich die Wiener Lichtblicke der Frage, inwieweit Kunst bzw. Kunsterfahrung im Kontext des Politischen speziell im öffentlichen Raum auch Mitbürger:innen anspricht, die weniger kunstaffin sind oder aus anderen Gründen bislang keinen Zugang zu Kunst fanden. Wie kann Kunst im öffentlichen Raum im Kontext des Politischen bestehende Mindsets hinterfragen und zu Veränderungen in der politischen Einstellung beitragen?

Aus dem Obigen lässt sich bereits ablesen, welch großen Raum Partizipation in Victoria Coelns Stadtprojekten einnimmt. Dies ist zuerst einmal dem Konzept der Projekte geschuldet, widmen sie sich doch thematisch Werten, Rechten und Begriffen, die nur durch eine gemeinschaftliche, immer wieder erneute Aushandlung, Positionsbestimmung und Konsensfindung existieren und funktionieren. Die Wahl von Partizipation als künstlerische Strategie verweist des weiteren auf den grundlegenden gesellschaftlichen Mechanismus der Schwerpunktthemen und ist damit quasi doppelt konsequent. Vor diesem Hintergrund sieht Victoria Coeln ihre Chromotope als neu hergestellte, markante Räume, in denen diese Prozesse der Aushandlung und Abstimmung schwellen-, ideologie- und barrierefrei möglich werden. Indem sie einen Teil des öffentlichen Raumes (der genau für solche Aushandlungsprozesse zur Verfügung stehen sollte und damit notwendige Voraussetzung für die Ausübung vieler Rechte ist) besetzt und markiert,   schafft sie – ganz im Sinne des Placemakings – nicht nur physische Orte, sondern auch (Ver)Handlungsräume. Auf der Produktionsseite werden sie von zufälligen Akteuren und eingeladenen Kollaborateuren zur Entwicklung von eigenen Arbeiten, künstlerischen und zivilgesellschaftlichen Interventionen genutzt; auf der Rezeptionsseite sind sie Interaktionsorte mit und auch für Bürger:innen, Besucher:innen und Passant:innen. Dabei geht Partizipation hier weit über die Idee einer bloßen dialogischen Interaktion mit dem Werk hinaus: So, wie die in den Jahresthemen angesprochenen Werte immer wieder der individuellen „Justage“, des Abgleichs ihres Inhaltes mit der eigenen Lebenswirklichkeit bedürfen, sind die Besucher:innen nicht nur aufgerufen, das Werk durch die eigene Interpretation zu vollenden sondern auch, miteinander in Kontakt zu treten. Partizipation in diesem Sinne repräsentiert nicht Austausch, Diskurs, Verhandlung, sondern schafft dieses.

Sie ist kommunikative Praxis und verwandelt damit die Betrachtenden in sozial aktive Akteure. Der französische Kurator und Kunstkritiker Nicolas Bourriaud bezeichnet eine solche Kunstpraxis als „relational art“. Für ihn ist es  Aufgabe der Kunst, „Modelle für konkrete soziale Beziehungen zu erfinden,“ in denen es „nicht mehr um individuelle Reflexion und ästhetisches Urteil, sondern um kollektive Teilhabe und ergebnisoffene Begegnungen geht.“

Gehen wir zum Abschluss nochmal einen kleinen Schritt zurück und schauen auf die Ebene der subjektiven Erfahrung, die es gleichermaßen unterhalb der politischen Dimension, die Bourriaud anspricht, ebenfalls noch gibt. Sie ist meines Erachtens notwendige Voraussetzung, um die Transformation der Betrachtenden von passiven Kunstkonsument:innen zu sozialen Akteur:innen zu ermöglichen. Die Chromotope sind damit nicht nur (Ver)handlungsräume, sondern auch Übergangszonen, in denen sich Wahrnehmung und Mindset der Betrachter:innen ändern können. Der amerikanische Philosoph Arthur C. Danto definiert Kunst als „aboutness“ (etwas, das über etwas sei) – sie verweist also stets auf etwas außerhalb ihrer selbst, was wir ohne ihre Hilfe nicht erkennen könnten. Was also ist diese „aboutness“, dieses „Über etwas sein“, das uns Victoria Coelns Lichträume erkennbar machen? Der entscheidende Hinweis findet sich im Entstehungsprozess, den die Künstlerin wie folgt beschreibt: „Wenn ich eine gewisse Zeit in einem Raum bin, fange ich an, geistige Spuren in den Raum zu legen. Wenn jemand (…) den Raum mit Blicken abtastet, entsteht ein weiteres, jetzt dreidimensionales Gewebe. Ich sehe das als weiße Linien, die mir den Raum aufspannen. Wenn ich mir weiter vorstelle, dass die Person im Gehen und Sehen in die Vergangenheit und Zukunft denkt, bilden sich weitere Linien, Zeitlinien. Die Lichtlinien der Chromotope lege ich einfach in diese immens dichte multidimensionale Matrix, die den Raum füllt, erweitert und durch ihn hindurchdiffundiert.“ 

Victoria Coelns Chromotope handeln also zunächst einmal von unserer Wahrnehmung. Wie erschließen wir uns einen Raum? Nicht durch einen Blick, sondern durch das Abtasten und Zusammensetzen von Eindrücken, das Hinzudenken von dem, was war, sein wird oder sein könnte. Unsere Raumwahrnehmung ist also ein komplexes Konstrukt, in dem sich Zeit- und Raumfragmente, materiell Vorhandenes, Imaginiertes, Erinnertes und Zukünftiges durchweben. Dies verweist des weiteren auf eine besondere Art des Raumverständnisses. Seit dem Spatial Turn wird Raum nicht mehr als „leerer Container“ verstanden, der „gleichsam an sich existiert“ und den es zu füllen gilt. Nach dem französischen Soziologen Henri Lefebvre ist er vielmehr ein soziales Produkt, bei dem es eine Wechselwirkung zwischen Raum und seinen Nutzer:innen gibt: Einerseits formt die Gesellschaft Raum, andererseits wirkt der so produzierte Raum auch wieder auf die Gesellschaft zurück. Legt man ein solches Raumverständnis zugrunde, wird der Raum zu einer Stellschraube, mit der sich gesellschaftliche Praktiken beeinflussen lassen. Gegenstand der Critical Spatial Practice ist die Frage nach den sozialen Bedingungen, die Räume formen, und die Praktiken, durch die sie geändert werden können.

Mit den Chromotopen zeigen uns Victoria Coeln, ihre Kollaborateure und Komplizinnen ein überzeugendes Format hierfür auf und stellen zugleich die Frage: Kann die Schönheit ästhetischer Erfahrungen in die Schönheit gesellschaftlichen Handelns übergehen – und wechselwirkend – wie formt die Schönheit gesellschaftlicher Handlungen neue Räume für positive Erfahrungen, Erlebnisse und Erinnerungen?

 

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 1    Siehr, Angela: Das Recht am öffentlichen Raum, Tübingen 2016, insb. S. 409ff

2    Zitiert nach: Rebentisch, Juliane: Theorien der Gegenwartskunst, Hamburg 2013, S. 61-62

3    Vgl. Danto, Arthur C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt am Main 1984, S. 28

4    Günzel, Stephan: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010, S. 91

5    Der Begriff wurde 2003 von Jane Rendell geprägt. Kunst im öffentlichen Raum, Interventionen und Performances werden hierbei als mögliche Formen untersucht. Siehe hierzu etwa Rendell, Jane: Art and Architecture: A Place Between, London 2006