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Lichtort 01 - Chromotop Justizpalast

Der Lichtort

Tamara Ehs: "Ein starker Rechtsstaat schützt die Demokratie, indem er die Gewährleistung der Grund- und Freiheitsrechte kontrolliert. Insbesondere Höchstgerichte stellen Bollwerke gegen Versuche der Autokratisierung dar, denn sie agieren als verlangsamende Instanzen, die der Zivilgesellschaft und dem Parteienspektrum Zeit verschaffen, um auf autoritäre Tendenzen zu reagieren. Aus diesem Grund wählten die Lichtblicke den Justizpalast als Sinnbild für die in einen starken Rechtsstaat eingebettete Demokratie für die heurige Eröffnung. Negativbeispiele wie Ungarn oder Polen veranschaulichen, welche Rolle Höchstgerichte und der Zugriff auf sie beim autokratischen Staatsumbau spielen. Sie sind gemeinsam mit anderen Kontrollorganen wie parlamentarischen Oppositionsrechten und freien Medien stets die ersten Zielscheiben bei der Entfaltung autoritärer Politik. Im Playbook der Autokraten ist die Gleichschaltung der Gerichte ein probates Mittel für Machterhalt und Machtausbau, weil sie die störende Kontrolle eliminiert.

Nicht zuletzt korrespondierte die Eröffnung der Lichtblicke im Justizpalast mit dem heurigen Gedenkjahr an die Revolution von 1848. Vor 175 Jahren kämpften die Wiener:innen nicht nur für Presse- und Meinungsfreiheit, sondern auch für die Bindung der Herrschaft an die Verfassung, für den Rechtsstaat, also gegen staatliche Willkür. Danach war noch ein langer Weg der Demokratisierung zu beschreiten, der bis heute nicht abgeschlossen ist, weswegen die Lichtblicke insbesondere bei performativen Versammlungen stets auch auf die Leerstellen der demokratischen Realverfassung hinweisen. Demokratie darf kein Privileg einiger weniger, sondern muss ein Recht aller sein. Hierfür reicht es nicht, allein rechtliche Gleichheit zu schaffen. Vielmehr muss gesellschaftliche Gleichheit angestrebt werden, damit wir unsere gleichen Rechte auch in gleicher Weise wahrnehmen können."

Volltext

 

Victoria Coeln

Geboren 1962, lebt und arbeitet in Wien. Sie studierte Bühnenbild an der Akademie der bildenden Künste Wien sowie Mathematik an der Universität Wien und der Technischen Universität Wien. Bekannt geworden ist Victoria mit ihren ortspezifischen Lichtinterventionen, den Chromotopia, die sie seit 2002 an politisch, archäologisch und kulturhistorisch bedeutenden Orten in aller Welt entwickelt. Seit einigen Jahren konzipiert und realisiert Victoria Coeln multilokale, multidisziplinäre und partizipative Großprojekte, die sich einem übergeordneten Gesamtthema widmen. Den Auftakt machte 2019 das Projekt peaceful revolution, das sie anlässlich 30 Jahre Friedliche Revolution 1989 im Stadtraum und im Museum der bildenden Künste in Leipzig schuf. Seit 2020 ist Victoria Coeln künstlerische Leiterin der jährlich stattfindenden, von ihr entwickelten Wiener Lichtblicke.

Lichtgrafik

Die Raster der Justitia - fotografie-basierte Rastergrafik, die das Innere des Justizpalast nach Außen überträgt

Heike Sütter: Die sehende Justitia

Obwohl „nur“ aus Licht, überschreiben Raster das Innere und Äußere des Justizpalastes eindrücklich. Victoria Coeln hat diese Lichtgrafiken eigens für den Ort entworfen. Anfangs dachte ich, hier entsteht ein völlig neuer Raum. Auf der visuellen Ebene stimmt das vielleicht. Doch tritt das Inhaltliche in den Vordergrund, so fügen sich Licht, Kunst und Realraum zu einem stimmigen, folgerichtigen Ganzen zusammen.

Was sind Raster? Zunächst ein Werkzeug, das etwas Ganzes in regelmäßige – und damit nachvollziehbare, überschaubare und vorhersehbare – Teile gliedert. Es hilft uns, das Komplexe zu erfassen, eine nachvollziehbare Position anzugeben und vielleicht auch, uns im Bezug dazu zu verorten. Es ist also – eine Art Koordinatensystem, und zwar ein objektives, über-individuelles, berechenbares... Hier sprang bei mir der Funke zum Ort über: Was könnte das komplexe, abstrakte, so viele individuelle Sachverhalte in allgemeingültige Regel subsumierend müssende Recht besser ausdrücken als ein Raster, das sich als Koordinaten- und Navigationssystem über das Gebäude legt? Es verweist auf den objektiven Rahmen des Rechts und seiner Normen, die ohne Ansehen der Person, ihres Geschlechts, sozialen Status oder Herkunft, Handlungen, Sachverhalte und Werte ein- und verortet. Das bietet uns einen verlässlichen Rahmen, in dem wir uns bewegen können und zugleich einen verlässlichen Anker, von dem aus Interpretation und Kreativität möglich wird. Ohne solch eine Grundlage ist Demokratie nicht denkbar. Wir wissen, woran wir sind. In diesem Lichte gesehen, ist es auch folgerichtig, dass die österreichische Justitia ihre Augen öffnet und anstelle der Waage das Buch hält. Eins weitergedacht sind die organischen Lichtlinien, die Victoria Coeln vorzugsweise in weiten Landschaften, Plätzen und an Architektur einsetzt, wie ein Komplementär, ein ergänzender Gegensatz zum geometrischen Raster. Sie stehen für individuelle Seh- und Licht- spuren, die Dinge durch den Blick immer wieder aufs Neue verbinden, neu kontextualisieren und vielleicht auch wieder auflösen. Das eine Rhizom, das andere Raster. Für unser Weltverständnis ist beides nötig.

Photo Credits: NIPAS / Helmut Prochart / Bildrecht / 2023